Mit dem Backblech nach Ottersberg
Den Zug zu erreichen, bekomme ich ganz gut hin. Kind, Tasche vom Kind, Spielzeugrucksack vom Kind und meine eigenen Unterhosen habe ich systematisch an meinen Schultern in diversen Taschen baumeln. Jeder Handgriff sitzt. Das Brötchen vom Bäcker und die Hubba Bubbas im Bahnhofsshop werden ordnungsgemäß in den dafür vorgesehenen Taschen verstaut.
Es ist noch Zeit. Die Fahrkarte ist ebenfalls käuflich erworben und auch den Coffee to go jongliere ich souverän in irgendeiner Hand. Pixibücher sind eingepackt, und das Kind kann sich im Zug gut selbst beschäftigen. Was lese ICH eigentlich? Schnell nochmal nachrüsten - denke ich mir und gehe zurück in den Hubba Bubba Shop. Da liegen massenhaft Zeitungen. Ich denke mir: Nimmste mal eine mit und greife nach “Die Zeit”. Greifen ist das falsche Wort. Ich hebel sie nach oben, denn sie ist irgendwie fast auf dem Fussboden platziert. Ich bücke mich Richtung wöchentlicher Bildung, während mir die Schlüpfertasche von der linken Schulter rutscht, der Kinderrucksack in die Bildzeitung fliegt und das Kind zeitgleich um Hilfe zum Öffnen der Kaugummi-Packung bittet. 4,70 € sind gut investiert. Ich kann jetzt kommende Woche überall mitreden, denn ich habe „Die Zeit“ gelesen - denk ich so, während ich überlege, wo und wie ich diese Zeitung transportiere. Ein Backblech wäre einfacher unter den Arm zu klemmen. Das Format ist das gleiche, hätte man da nur nicht noch die Einlagen des evangelischen Magazins “Chrismon" und das „How to make a Zeit Magazin“ beigelegt. Vor Gleis 13 rutscht mir die ganze Einlage auf den Boden, direkt vor der „Pils Bar“, gleich neben dem „24 Stunden Schlüssel- und -Schuhservice“. Das Kind will was trinken, weil das Schokobrötchen im Mund staubt, und ich suche am Boden nach der evangelischen Zeitung und achte dabei stets auf Taschendiebe. Es wird überall darauf hingewiesen, diesen keine Chance zu bieten.
Der Gaumen ist längst verbrannt, denn der Coffee to go wurde so gestürzt, dass es eigentlich auch egal ist, ob man Milchkaffee oder Latte Macchhiato nimmt - letzteres ist ja wegen des Espressos bekömmlicher, habe ich irgendwo gelesen- wahrscheinlich in der Hamburger Morgenpost. Hätte ich die mal gekauft, die hätte ich in die Handtaschen quetschen können und gebildet wäre ich allemal auch- zumindest lokal.
Mein Nacken wird immer steifer, denn ich transportiere mittlerweile das “Zeit-Backblech” mit allen Zugaben unter der rechten Achsel, als wir Gleis 13 auf Abschnitt A/B - ausserhalb des Bahnhofs im strömenden Regen erreichen. Ich lasse mich mit sämtlichen Gepäckstücken auf einen 4er Sitz mit Tisch fallen, während das Kind fragt, ob man da klettern kann. Jaja, kletter ruhig, denke ich mir, sortiere evangelisches Magazin und Pixibuch auf den Tisch in der Mitte der 4er Sitzkombination, als die Frau Schaffnerin kommt und mich fragt, ob das Kind in der Gepäckablage zu mir gehört. Ich bestätige und fange mir einen ein: Bei einer Vollbremsung flöge der Junge durch den ganzen Zug. Ihr sei das ja egal, es sei nur ihre Pflicht, mich darauf hinzuweisen. Ich entschuldige mich, ermahne das turnende Kind und lasse mich in den Sitz fallen. Gerade will ich mein Backblech entfalten. Da gibt es einen Artikel über Vater, Mutter, Kind. Ideal und Wirklichkeit des Zusammenlebens. Interessant.
Mama, liest Du mir was vor? Klar, mach ich. „Ich habe eine Freundin, die ist Notärztin“ oder „Was ist los bei der Feuerwehr?“ „Beides!“ Gut, es lebe das Pixibuch, ist auch ein reisefreundlicheres Format! Ich bin so vertieft in Löschvorgänge und Atemschutzmasken, dass ich zu keinem Zeitpunkt das Bedürfnis verspüre, meine 4,70€ Bildung zu entfalten. Lohnt sich auch nicht mehr, in 12 Minuten erreichen wir unseren Bahnhof, da müsste ich in 7 Minuten beginnen, das Bildungsblech zusammenzufalten.
Alles gut. Ich weiß jetzt, was ein Notarzt so macht und denke jetzt schon, dass ich - wenn´s hoch kommt - Feuilleton und Hamburg-Teil schaffe.