Pubertät und Fischstäbchen
Bei der Wachsgieß-Prognose am 31.12.2020 war ich in der Dekodierung des von mir gegossenen Kunstwerkes noch positiv kreativ: Das Arbeitswerkzeug des Schornsteinfegers sah untypisch für seinen Berufsstand aus. Ich dachte mir noch nichts dabei.
Mittlerweile befürchte ich, dass sich da ein Stern im Universum mit all den positiven Prognosen für 2021 (vorerst?) geirrt hat und der Schornsteinfeger gar keiner war. Und wenn, dann mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in der Hand oder der Versicherungspolice der Berufsunfähigkeitsversicherung in einer Mappe. Mindestens aber in Kurzarbeit. Hamburg wird von ihm dieses Jahr nicht angefahren. Wie gut, dass ich Sorgen und Ängste aus 2020 über der Kerze verbrannt habe. Noch dazu war Vollmond. Mehr geht nicht.
Jetzt ist es wieder soweit und ich krempele meine Ärmel hoch: Lockdown 2.0.
Pommes, Pizza, Pups und permanentes Home-Schooling. War das zwischenzeitlich mal anders? Ich erinnere mich nicht, frage mich jedoch, wann ich verbeamtet werde. Während der 2-wöchigen Oktober-Quarantäne meines Sohnes habe ich vergessen, Gelder zu beantragen, die wichtig gewesen wären, wie ich jetzt merke. Ach, wer braucht schon Geld? Die Schule liefert schließlich den Pritt-Stift mit, müssen wir gar nicht kaufen. Toll.
Meine Yogamatte rolle ich vor dem Bildschirm aus und treffe meine Freunde virtuell. Ganz schön einsam alles.
Ich fahre meinen Rechner vor der heimischen Vogeltapete hoch – ach nee, brauch ich gar nicht. Ich fahre den seit März 2020 ja gar nicht mehr runter. Es ist 8:03 Uhr und ich bringe schon mal meine Schreibtischlampe für die Videokonferenz in Position, da höre ich aus dem Kinderzimmer: „Maaaama, kannst du mal kommen?“ Sachunterricht Thema Pubertät. Ob ich den Film über Befruchtung anmachen kann, den die Kinder per Link erhalten haben und ausschließlich zusammen mit ihren Eltern gucken sollen. Mach ich.
In der Küche versuche ich mir eine Kanne Tee zu kochen, die bis Mittag halten muss, da ist der Befruchtungsfilm nach vier Minuten auch schon vorbei. Ich erinnere mich, sowas geht schnell. Jetzt soll sich darüber ausgetauscht werden. Äh, ich habe in 7 Minuten Zoom Seminar und muss noch meine Power Point-Präsentation für mein Referat „Sylt“ öffnen, damit bei der Bildschirmteilung später nicht das ganze Seminar meinen unaufgeräumten Desktop sehen kann. Außerdem wirkt das unvorbereitet und das bin ich keinesfalls!
Auf wann kann ich denn jetzt die Befruchtung schieben?
Wir schaffen heute sogar ein gemeinsames Mittagessen, das ich um 6:30 bereits gekocht und gedanklich vorbereitet habe. Reis mit weiß ich noch nicht. Fischstäbchen oder vegetarische Schnitzeldinger aus dem Ofen. Entweder gemeinsam essen oder kochen. Beides geht nicht. Ich entscheide mich (seit März 2020) für Quality Time zu zweit und öffne das Gefrierfach. Meine Güte, da sieht´s aus! Gibt es eigentlich ein Inhaltsverzeichnis für Gefrierfächer? Es dampft mir entgegen und ich suche im Dunkeln nach den Fischstäbchen. Beleuchtung gibt es nicht, deshalb setze ich mir Lewes Stirnlampe auf, als es aus dem Kinderzimmer ertönt: „Mama, ich versteh hier was nicht!“ „Jaha, gleich!“
Die sieben Fischstäbchen können in Ruhe auftauen. Leider habe ich nicht bedacht, dass es letzte Woche schon welche gab und ich keine nachgekauft habe. Dann esse ich eben Reis mit Reis. Vielleicht finde ich noch Gemüse TK.
Frisch zu kochen war für mich immer wichtig, denn gesunde Ernährung gibt Energie und Kraft. Du bist was du isst. Behalt ich im Hinterkopf.
Gedanklich überlege ich, wann das Kind Videokonferenz hat und wann ich zuvor das LMS dafür installieren und erklären soll, nachdem ich es mir erstmal selbst erklärt habe. Jetzt muss ich aber mit der Power Point nach Sylt.
Mein Email Postfach quillt über. Die Break Dance Institution meines Sohnes lädt zum Mitmach-Programm ein und fragt ab, wer wann Interesse an einem Zoom Treffen mit den Trainern und dem Kurs hat. Link anbei. Ich überlege, wann wir dafür noch ein Zeitfenster übrighaben, und ob diese Mail heute überhaupt wichtig zu erwähnen ist oder Zeit bis morgen hat.
Parallel zur Pubertät hat Lewe seinen neuen Schrittzähler auf dem Schreibtisch wiederentdeckt. Ihm fällt in diesem Augenblick ein, dass man die Schrittlänge vor Benutzung einstellen muss. Ob ich wisse, wie das geht. Ich frage mich, welche Schritte der im Lockdown genau zählen soll. Kinderzimmer- Küche-Klo?
Nicht mal diese Schrittlänge wäre ich im Stande jetzt einzustellen.
Der Gruppenchat der Klasse 4a bimmelt ununterbrochen. Eine Mutter fragt, ob die Kinder in Mathe auch das hier bearbeiten sollen und schickt ein unscharfes Foto von Seite 52 mit wenigen Zahlen, dafür mit einem Igel und einem Frosch im unteren Bildrand. Lewe weiß das auch nicht. Vier Eltern unterhalten sich bei der Gelegenheit noch darüber, welchen Eingang der Schule die Kinder am Freitag zum Materialtausch nehmen sollen und eine Mutter fragt, zu welcher Uhrzeit das denn sein soll, woraufhin drei Mütter der Erdmännchen-Klasse „12-14 Uhr“ antworten und auf „danke“ gerne noch „bitte, dafür nich“ mit Smileys und Daumen hoch Emojis folgen.
Die Überarbeitung hinterlässt Spuren: Ich packe ein Geburtstagsgeschenk in ein hübsches Päckchen, gehe einkaufen und halte auf dem Rückweg am Paketshop an: Dort lege ich das Paket mit den Worten „bitte versichert verschicken“ auf den Tresen. Der Mann schaut auf die Lebkuchenpackung „Herzen Sterne Brezeln“ und fragt höflich nach dem fehlenden Paketaufkleber. Ich erröte und suche in meinem Rucksack nach dem richtigen Päckchen. Wie gut, dass ich nicht das Netz mit den Apfelsinen versichert versendet habe.
Im Biomarkt entdecke ich neben den Pastinaken eine Frau, mit der ich seit drei Monaten im gleichen Seminar zoome. Ich checke nochmal, ob sie es auch wirklich ist. Fühle mich, als hätte ich Madonna oder Claus Kleber in der Gemüseabteilung getroffen. Personen, die ich noch nie live gesehen habe, dafür aber seit Jahrzehnten in den Medien. Hier handelt es sich einfach nur um Pauline, die ich gar nicht persönlich kenne, da wir noch nie ein privates Wort gewechselt haben. Eben genauso wie mit Claus Kleber, da Fernsehen ja nur in eine Richtung funktioniert. Jetzt radel ich mit dem Gefühl nach Hause, jemanden Berühmtes getroffen zu haben.
Mist, vergessen, Streichhölzer zu kaufen. Dafür habe ich in meinem ganzen Leben noch nie Geld ausgegeben. Ich würde mich auch gerne mal wieder da tummeln, wo die auf dem Tresen zum Mitnehmen rumliegen.
Im Flur steht seit drei Wochen ein Kärcher zum Fenster putzen. Habe ich mir von Nachbarn ausgeliehen, weil ich dachte, dass es damit schneller geht. Ich komme nicht zum Fenster putzen. Die Weihnachtsbemalung präsentieren wir möglicherweise dieses Jahr noch zu Ostern, genauso wie das „Bleibt gesund“ am Kinderzimmerfenster, das dort seit März Mut machen soll. Ich lass das jetzt so. Entscheiden muss ich einzig, ob ich den Kärcher aus dem Flur in den Schrank räume oder direkt zurückgebe.
Die pubertäre Aufklärung ist nicht nach einem Film abgeschlossen, also lesen wir noch den fotokopierten Comic, in dem der Vater seinem Sohn erklärt, dass bumsen das gleiche wie Geschlechtsverkehr ist. Lewe bejaht sehr schnell mit „Ah ja ja weiß schon“ und verdreht die Augen. Hier bleibt das wichtige Kichern mit den Mitschülern leider aus. Ich habe sowohl das Kichern als auch das andere bereits erlebt und kann mich aus diesem Grund über diesen Begriff nicht mehr so sehr erheitern. Es kichert sich außerdem einfach nicht so gut mit der Mutter über dieses Thema!
Die Belastungsgrenze ist erreicht und ich habe nicht mehr viel Kraft übrig für das „Lernen zu Hause“, wie es in den Medien gerne betitelt wird.
Niemand hat mir je gesagt, wie man Kinder zu Hause unterrichtet. Und ich will nicht wieder hören, dass das ja auch gar nicht unsere Aufgabe ist, da die Kinder das eigentlich selbständig bearbeiten sollen.
Ich springe im Dreieck, werde noch hektischer und weine viel zu viel.
Und dann ist auch schon wieder Zeit irgendwas zu kochen.